Kirche, Schuld und Wörterbücher

Juni 30, 2009

„Alle Verbrechen sind auch vor dem Erfolg der Tat, soweit genug Schuld besteht, ausgeführt.“ – Seneca d .J., Über die Standhaftigkeit des Weisen, VII, 4

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Verwendung des Schuldbekenntnisses im Rahmen der römisch-katholischen Liturgietradition seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil fakultativ ist: Mag man den Status der westlich orientierten post-Industriegesellschaft, in der wir leben, bewerten, wie man will, ihr wird fast uneingeschränkt zugestanden, dass sie dem Individuum ein hohes Maß an persönlicher Freiheit zugesteht. So scheint es nachvollziehbar, das Eingeständnis der Schuld aus dem Kollektiven ins Private zu verbannen. Fasse ich Schuld als persönliche oder als gemeinschaftliche Kategorie auf?
Als Überlegung über die Vorhersehbarkeit des Verbrechens bedingt The Minority Report auch die Überlegung über Schuld. Wo liegt die Verantwortung im Falle eines vorhersehbaren Verbrechens? Auf Seiten des Beschuldigten, der die Tat plant, oder auf Seiten der Behörde, die die Tat nicht verhindert?
Bleiben wir dazu zunächst bei der christlichen Liturgie: „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi“ (Lamm Gottes, der du trägst die Sünden/Schuld der Welt), wird in der römisch-katholischen Eucharistiefeier nach dem Friedensgruß gebetet. Ein klassischer Grundgedanke: Christus, das Lamm Gottes, wird durch das Übernehmen der Schuld der Menschen zum Erlöser. Die Lektüre seiner späteren Werke legt die Auffassung nahe, dass bei Philip K. Dick ein grundsätzliches Interesse an der Konstruktion von Erlösungsfantasien besteht: Der Schlüssel zum Verständnis menschlicher Existenz und demzufolge auch menschlicher Schuld liegt demnach nicht primär im Individuum selbst, sondern in seiner Fähigkeit, ein übermenschliches Agens (Gott/Valis) zu erkennen – eine Entität, die letzten Endes fähig ist, Verantwortung zu übernehmen.
Unter dieser Prämisse lässt sich The Minority Report als Versuch einer Institutionalisierung des erlösenden Lammes lesen: „If we let one criminal escape (…) we’ve got a human life on our conscience. We’re solely responsible.” (S. 326), meint John Anderton am Beginn der Kurzgeschichte und umreißt damit eine grundsätzliche Funktion, die Precrime in Dicks Post-World-War-III – Welt ausfüllt. Die letztendliche Verantwortung („solely responsible“!) liegt nicht beim Individuum, sondern bei der Institution. Indem die story der Kurzgeschichte den Konflikt auf die Ebene der um die Macht im Staat rivalisierenden Verwaltungsebenen transferiert (und damit auch reduziert), verhandelt Dick dieses Problem auch diskursiv nicht weiter: Es ist egal, ob das Militär oder Precrime die Macht über das System ausübt, die Schuldfrage bleibt in jedem Fall ein kollektiv und nicht persönlich zu verhandelndes Phänomen.
Dass diese Sichtweise die Frage nach der Verortung von Schuld nicht beantworten kann, ist Dick durchaus bewusst: „We claim they’re culpable. They, on the other hand, eternally claim they’re innocent. And, in a sense, they are innocent.“ (S. 324) Indem (der Autor) Philip K. Dick seine Karten bereits in den ersten Zeilen der Kurzgeschichte offen legt und zu erkennen gibt, dass das Dilemma zwischen Verantwortung und Vorhersehbarkeit der Schuld für ihn nicht auflösbar ist, fällt ihm für den Rest der Geschichte lediglich die Aufgabe zu, die Funktionsweisen und Paradoxien des gesamten Vorhersehungsprozesses schrittweise zu entschlüsseln und nicht, dieses Problem weiter zu verhandeln. Auch die Auflösung der Geschichte bleibt ironisch-resignativ: Letzten Endes kann Anderton seinem Nachfolger nur raten, die Augen für die Wiederholung dieses Falles offen zu halten: „It could happen again – (…) So watch your step.“ (S. 353)
So lässt auch Dicks Wortwahl im ersten Kapitel der Kurzgeschichte einen durchaus breiten Interpretationsraum hinsichtlich der tatsächlichen Natur der zu begehenden Verbrechen: Die von Precrime Verhafteten werden zunächst in Erwartung ihres Verbrechens als „individuals who have broken no law“ (S. 324), auf ihrer Karte als „accused future murderers“ (S. 327) und (nur im Zusammenhang mit der Eventualität eines Entkommens!) als „criminals“ (S. 326) bezeichnet. Dazwischen benutzt Dick eine Bezeichnung, die es sich näher zu betrachten lohnt: Als „culprit“ (S. 326) kann nämlich laut Oxford Dictionary sowohl „he who is arraigned for a acrime or offence; the accused(!)“ als auch „an offender, one guilty(!) of a fault or offence“ bezeichnet werden.
Dass das Wort „culprit“ selbst eine erst durch Schlampereien in der Gerichtssprache entstandene Verschmelzung von „culpabilis“ (schuldig) und „prit/prist“ (franz. schnell) ist und heute in beiden oben genannten Bedeutungen verwendet wird, trägt weiter zur offenen Interpretierbarkeit von Dicks Text bei: Die alleinige Lektüre der Kurzgeschichte selbst beantwortet die Frage nach der Verortbarkeit von Schuld nicht, sondern bietet vor allem eine dystopisch-ironische Sichtweise auf ein System, das in voreiligem Gehorsam die Schuld des Einzelnen auf sich nimmt und dadurch erst Kollektivschuld schafft.

 

Quellen:

Dick, Philip K., The Minority Report. In: Ders., The Philip K. Dick Reader. New York: 1987, S. 323-354.

Simpson, J.A. (Hg.), The Oxford English Dictionary, Oxford: 1988

Die römisch-katholische Liturgie, am eigenen Leibe

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