Überwachung und Simulation – Ein Gedankenexperiment

April 6, 2009

Quietly Anderton said: “I am proud. Thirty years ago I worked out the theory – back in the days when the self-seekers were thinking in terms of quick raids on the stock market. I saw something legitimate ahead-something of tremendous social value.” – Philip K. Dick, The Minority Report

1.
Jean Baudrillard, französischer Medientheroretiker, Philosoph, Poststrukturalist; kurz: Textproduzent, entwickelt in den 1970er Jahren eine sehr spezielle Simulationstheorie: Die Zeichen, auf denen unsere Mediengesellschaft aufbaut, beziehen sich auf keinen realen Referenten mehr, sondern weisen lediglich auf ein weiteres Simulakrum hin. War in der Repräsentation noch das „Prinzip der Äquivalenz zwischen Zeichen und Realem“ (Baudrillard 1978: 14) gegeben, so hat in der Simulation das Zeichen jeden Wert verloren und keine Referenz mehr im Realen. Mit der für Baudrillard gegebenen Unmöglichkeit, zwischen Simulakrum und Realität zu unterscheiden, ist auch die Möglichkeit einer kausalen oder konsekutiven Trennung verschwunden: Die Frage nach dem „Was war zuerst da?“ erübrigt sich, da die Logik von Ursache und Wirkung in der Medienwelt nicht mehr anwendbar ist.

2.
In der Münchener S-Bahn sind seit Mitte 2008 Überwachungskameras montiert. Eine Abschreckungsmaßnahme, denn „das Material wird nur dann gesichtet, wenn wirklich etwas passiert ist, oder Hinweise bei der Polizei eingegangen sind.“ Die Meinungen dazu sind geteilt, „‚Prävention statt Überwachung’ fordert ein S-Bahn-Reisender (…). Ein ‚ungutes Gefühl’ habe er dabei.“
Fernab von der Diskussion um Abschreckung oder Überwachung sind die Kameras von nun an vor allem eines: Infrastruktur.

3.
In naher Zukunft sind Schwerverbrechen nicht mehr möglich. „Precrime“ nennt Philip K. Dick sein System in der Kurzgeschichte The Minority Report, ein System basierend auf den Zukunftsvisionen dreier Precogs, „idiots“, deren übernatürliche Fähigkeiten, Teile der Zukunft vorauszusehen, in speziellen Trainingscamps kultiviert werden, um anschließend zum Wohle der Gesellschaft eingesetzt zu werden. Dicks Kurzgeschichte lässt einiges an Interpretationsspielraum bezüglich der Herkunft dieser Fähigkeiten offen; eine Spielart der Natur, hyperbegabte Mutanten scheinen am Wahrscheinlichsten.
Indem er sich hier um eine klare Aussage drückt, umschifft Dick hier einen wesentlichen Aspekt seiner Zukunftskonstruktion und lässt eine interessante Fragestellung zu: Was war zu erst da, die Henne, oder das Ei? Die Fähigkeit, Verbrechen durch die zufällige Geburt dahingehend talentierter Mutanten vorauszusehen, oder der Wunsch der Gesellschaft und die darauf folgende Ausbildung der Precogs?

4.
Zurück zu Baudrillard:
„Das Charakteristische an der Simulation ist die Präzession des Modells, aller Modelle, die über den winzigen Tatsachen kreisen. Zunächst gibt es die Modelle und ihr Zirkulieren (…) sie konstituieren das wirkliche magnetische Feld der Ereignisse.“ (Baudrillard 1978: S. 30)
Wie entsteht nun ein reales Ereignis, wenn doch alles nur mehr in Simulakra existiert?
Mehr oder weniger zufällig, meint Baudrillard, wenn sich die verschiedenen Modelle kreuzen, kann auch etwas tatsächlich Reales passieren: „Die Tatsachen besitzen keine eigene Flugbahn, sie entstehen im Schnittpunkt von Modellen, so dass eine einzige Tatsache von allen Modellen gleichzeitig erzeugt werden kann.“ (S. 31) So hat ein realer Ereignis vielleicht wirklich eine Ursache – aber es ist unmöglich und fruchtlos diese finden zu wollen, weswegen jede Interpretation eines Ereignisses gleichberechtigt möglich ist: „Alle Interpretationen sind wahr; ihre Wahrheit besteht darin, sich in einem erweiterten Kreislauf auszutauschen, und zwar nach Maßgabe von Modellen, denen sie selbst vorgeordnet sind.“ (ebd.)

5.
Ein Ereignis entsteht also als Schnittpunkt verschiedener Simulationsmodelle.
Wir haben im Falle von München:
a) die REALE Existenz von Kameras in Münchner S-Bahnen.
b) die SIMULIERTE Überwachung (kein Mensch sieht die Bilder der Überwachungskameras an).
c) die irreale, nicht greifbare und somit SIMULIERTE Angst der S-Bahn-Benutzer.
Mit Baudrillard sind nun verschiedene Logiken möglich:
Genauso wie b) und c) Produkte von a) sind, ist auch der Umkehrschluss möglich: Da etwas Simuliertes nicht mehr zeitlich zu datieren ist, wird genauso a) erst durch b) und c) bedingt. Die Simulationen kreuzen sich und bringen die Realexistenz der Kameras hervor.

6.
Sobald wir auch den Fall a) als simuliert betrachten wollen (effektiv wird ja niemand überwacht, die Kameras dienen der Abschreckung und sind somit lediglich als Zeichen von Zeichen, also auch als Simulakrum zu betrachten) stellt sich die Frage, welches (reale?) Produkt d) im Falle des Schnittpunktes von a), b) und c) hervorkäme.
Vermutlich entweder
d1) eine gesteigerte Form der Infrastruktur. Die Existenz von Kameras, sowie das in den Menschen verankerte Angst- und Überwachungsbewusstsein ergeben das latente POTENZIAL der totalen Überwachung, das im Falle einer autoritären Machtübernahme nutzbar wäre
oder d2) der Fall von The Minority Report: die REALE totale Überwachung, die aber im täglichen Leben nicht manifest wird, weil sie selbst einen SIMULIERTEN Mord, eine Absicht, erkennt und bestraft.

7.
Weder im Falle d1) noch d2) ließe sich, dem Gesetz der Präzession der Simulakra zufolge, festmachen, ob das Potenzial zur Überwachung oder der Wille der totalitären Macht zur Überwachung zuerst kam; demzufolge auch nicht, ob die Precogs Auslöser, oder lediglich Symptom des Systems „Precrime“ sind.

„The three gibbering, fumbling creatures, with their enlarged heads and wasted bodies, were contemplating the future. The analytical machinery was recording prophecies, and as the three precog idiots talked, the machinery carefully listened.” – Philip K. Dick, The Minority Report

Quellen:

Baudrillard, Jean, Die Präzession der Simulakra. In: Ders., Agonie des Realen. Berlin: 1978, S. 7-69.

Dick, Philip K., The Minority Report. In: Ders., The Philip K. Dick Reader. New York: 1987, S. 323-354.

Röder, Pia, Schwarze Augen an der Decke. Kameras in Münchner S-Bahnen. Süddeutsche Zeitung, 22.07.2008; http://www.sueddeutsche.de/muenchen/702/302698/text/, Zugriff am 06.04.09

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